[IITR – 9.11.16] Thilo Weichert ist seit über einem Jahr im Ruhestand – doch für den ehemaligen „Mr. Datenschutz“ ist es eher ein Unruhestand. Mit dem „Netzwerk Datenschutzexpertise“ hat der ehemalige Leiter des Unabhängigen Landeszentrums für Datenschutz (ULD) in Schleswig-Holstein einen Think Tank entwickelt, über den er sich regelmäßig zu aktuellen Themen äußert. Ehemalige Kollegen mutmaßten zunächst, dass es sich bei dieser Website sicherlich um einen Fake handele – aber das Gegenteil ist der Fall.
Diese Rückenansichten könnten zu irgendwem gehören – aber das ist nicht so.
Think Tank „Netzwerk Datenschutzexpertise“
Weicherts Mitstreiter sind alte Bekannte: Karin Schuler war gemeinsam mit Weichert jahrelang auch für die Deutsche Vereinigung für Datenschutz (DVD) aktiv und berät Unternehmen und Betriebsräte in Sachen Datenschutz. Weichert ist dort noch immer Vorstandsmitglied. Ingo Ruhmann und Ute Bernhardt kennen Weichert von ihrem jahrzehntelangen Engagement für das FIfF. Sowohl die Positionen der DVD wie auch des FIfF stehen den Grünen nahe. Schon vor der Gründung des „Netzwerks“ arbeitete man gemeinsam an diversen Positionspapieren zu Datenschutz und IT-Sicherheit.
Wie auf den ersten Blick zu sehen ist, treiben Weichert immer noch dieselben Themen wie zu seiner Amtszeit um: Die großen US-Internetriesen und ihr so ganz anderes Verständnis vom Datenschutz bzw. von der „Privatsphäre“. Mit Recherchen wie die über die Petitionsplattform change.org will Weichert „den Aufsichtsbehörden die Arbeit erleichtern“. Mittelfristig versucht der ehemalige ULD-Leiter aber „eine neue Datenschutzidentität aufzubauen“: „Ich will nicht mehr auf jedes aktuelle Ereignis sofort reagieren wie früher, sondern Expertenpositionen und die Rechtsdogmatik weiterentwickeln.“ So arbeitet er derzeit etwa an einem Kommentar zur europäischen Datenschutz-Grundverordnung sowie an Aufsätzen und Vorträgen über den Privacy Shield, Medizindatenschutz, Car2Car, Big Data sowie Polizei und Geheimdienste.
Weichert hofft, dass er so „die anderen Spieler mit Pässen versehen kann, damit sie den Ball im Sinne des Datenschutzes voranbringen können.“ Er will „nicht immer die erste Position vertreten wie Digitalcourage, netzpolitik.org oder CCC“. Aber es gebe seitens der Techniker, Juristen und Taktiker aus Arbeitnehmervertretungen und Verbraucherschutzorganisationen einen „großen Bedarf an Hintergrundrecherche“.
Thilo Weichert geriert sich als Einzelkämpfer, setzt aber stark auf Teamplay.Datenschutzaufsicht effizient gestalten
Mit Kritik an den Datenschutz-Aufsichtsbehörden tut sich Weichert schwer. Es gehöre sich irgendwie nicht, im Rückblick den Besserwisser zu spielen und die ehemaligen Kollegen zu kritisieren. Gleichwohl treibt es ihn um, wie man die Aufsichtsbehörden schlagkräftiger gestalten könnte. Das Bund-Länder-System habe durchaus seine Schwächen, denn viele Aufgaben gehörten – auch „angesichts der aktuellen Schwäche des Bundes“ – enger über eine zentrale Stelle koordiniert. Bisher sind es aber nur einzelne Bundesländer, die sich hier und da in einzelnen Sachfragen profilieren.
Zu den Themen, von denen alle gleichermaßen profilieren können, zählt der ehemalige ULD-Leiter etwa die systematische Weiterentwicklung des Handbuchs zum Standard-Datenschutzmodell samt Maßnahmenkatalog, die Einrichtung eines gemeinsamen Prüflabors samt Prüftool-Sammlung, die Begleitung der Arbeit in technischen Standardisierungsgremien oder auch die Entwicklung einer Methodik zur Datenschutz-Folgeabschätzung.
Das Standard-Datenschutzmodell, die Methodik zur Datenschutz-Folgeabschätzung und vieles mehr wurden und werden stark von Schleswig-Holstein vorangetrieben. Doch die Vorreiterschaft hat ihren Preis, wie Weichert einräumt: Vor allem die Kontrolle des öffentlichen Dienstes und der Sicherheitsbehörden hat in Schleswig-Holstein darunter gelitten, dass schon zu Zeiten von Helmut Bäumler der Arbeitsschwerpunkt auf innovative Präventionsarbeit im nicht-öffentlichen Bereich gelegt wurde – Stichwort Zertifizierung und Gütesiegel, Privacy by Design, Sommerakademie. Weichert übernahm die Prioritätensetzung Bäumlers, die bis heute auch unter Marit Hansen unverändert besteht.
Kursschwenk mit Defiziten
Dabei hatten sich sowohl Thilo Weichert, als auch Helmut Bäumler am Anfang ihrer Berufslaufbahn vor allem mit der Kontrolle von Polizei und Nachrichtendiensten befasst. Als Mitarbeiter beim ersten Bundesdatenschutzbeauftragten Hans Peter Bull hatte Bäumler mit drei weiteren Kollegen BKA, Bundesverfassungsschutz, MAD und Bundesnachrichtendienst mit Vor-Ort-Kontrollen so gründlich auf den Kopf gestellt, dass Hunderttausende von Dateien und Akten, die seit den 50er Jahren erstellt worden waren, gelöscht und vernichtet werden mussten. Als Bäumler dann nach Schleswig-Holstein kam, eilte ihm der Ruf des unerbittlichen Prüfers voraus – und das Landeskriminalamt zeigte sich höchst kooperativ.
Weil sich auf Polizeiseite alles bestens entwickelte, „konnten wir stärker in den nicht-öffentlichen Bereich hinein“, erzählen Bäumler und Weichert einhellig. Das sei notwendig gewesen, „weil da die noch größeren Defizite waren.“ Heute unterhält das ULD gerade einmal eine halbe Stelle für Polizei und Verfassungsschutz, wobei diese Stelle auch noch weitere Aufgaben abdecken muss. „Dies war eine Entscheidung aus dem Mangel heraus“, gesteht Weichert. Die Zusammenarbeit sei zuletzt aber nicht mehr so reibungslos gelaufen, berichtet er, weil das Innenministerium sich in den letzten Jahren deutlich weniger kooperativ gezeigt habe. Mangels Energie und Ressourcen habe man dem aber nicht mehr nachsetzen können. Auch habe man damit nicht an die Presse gehen können – „das war nicht skandalisierungsfähig“, sagt Weichert heute.
Mr. Diskurs
Apropos Skandalisierung: Weichert war für die Medien weithin der erste Ansprechpartner bei schwierigeren Themen. Das hatte mehrere Gründe: Zum einen war er meist direkt erreichbar, ohne große Terminabsprachen. Zum anderen scheute er nicht davor zurück, aus dem Stand eine neue Sachlage zu beurteilen. Offene Fragen klärte er in der Regel rasch und fundiert. Auch formulierte er druckreif und präzise, mitunter – seinem Temperament geschuldet – auch scharf. Diplomatie war und ist nicht unbedingt seine Stärke. „Facebook nervt – Widerspruch ist weiterhin und erneut nötig“ lautete beispielsweise eine Presseerklärung.
Dass er 2011 gegen diejenigen vorgegangen ist, die den Facebook-Like-Button auf ihrer Website eingebaut haben, bereut Weichert trotz abschlägiger Gerichtsurteile nicht: „Ich habe den Eindruck, dass es ein notwendiger Weckruf war. Sehr viele dachten, das sei absolut unrealistisch und radikal. Aber alles, was wird damals losgetreten haben, hat sich als richtig erwiesen. Denn auf einen groben Klotz gehört ein grober Keil.“ Der Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts habe sich als halber Erfolg erwiesen, die Urteile der Verwaltungsgerichte seien jedoch eine „justizielle Katastrophe“. Das zeige sich auch daran, dass der Verbraucherschutz in der Zivilgerichtsbarkeit ganz andere Urteile hervorbrächte.
Weichert ist sich bewusst, dass er sich mit seinem Vorgehen gegen die Like-Button-Nutzer ein „radikales Image“ zugezogen hat. Doch ist er sich sicher, dass all diejenigen, die mit dem ULD näher zu tun hatten, wussten, dass er „sehr pragmatisch, ergebnisorientiert und wirtschaftsfreundlich“ agiert habe. Als Beleg nennt er den Versicherungsbereich, in dem er jahrelange Verhandlungen mit der GDV geführt hat, sowie den KfZ-Bereich, in dem er mit diversen Aufsätzen und Vorträgen zum „vernetzten Auto“ eine richtungsweisende Debatte losgetreten hat. So finden sich die von Weichert skizzierten Positionen weitgehend in der gemeinsamen Erklärung von VDA und den Datenschutzaufsichtsbehörden wieder.
Johannes Caspar sagte in seiner Rede zu Weicherts Verabschiedung: „In Thilo Weichert hat der Datenschutz eine Person gefunden, die zu Zuspitzungen provoziert, aber auch nicht davor zurückscheut, sachliche Diskussionen nötigenfalls mit eigenen persönlichen Zuspitzungen anzustoßen. (…) Von Gegnern aus dem wirtschaftsliberalen Spektrum als Datenschutz-Taliban bezeichnet, ist es Weicherts Unnachgiebigkeit, die ihn für andere zu einem ‚Mann wie eine Firewall‘ macht, so die Süddeutsche.“
In der Auseinandersetzung mit dem ehemaligen schleswig-holsteinischen Innenminister Ralf Stegner (SPD), der suggerierte, Weichert stehe mit seiner scharfen Kritik an der Polizeigesetznovelle allein, scheute er auch nicht vor einem plakativen Konter unter dem Motto „Thilo nicht allein zu Haus“ zurück. Später hob das Bundesverfassungsgericht die trotz Kritik verabschiedete Vorschrift zum sogenannten Kfz-Screening auf.
Die meisten Mitarbeiter, die auf diesem historischen Bild zu sehen sind, sind nicht mehr im Haus, spielen aber weiterhin von Außen die Bälle zu.Die „Erzwingung des gesellschaftlichen Dialogs“
Seine Art, gesellschaftliche Debatten anzustoßen und scharf zu führen, hat Thilo Weichert schon früh entwickelt: 1979, in der Zeit zwischen seinem Studium der Rechts- und Politikwissenschaften an den Universitäten Freiburg und Genf und seinem politischen Engagement als Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg für die Grünen, reiste er für ein halbes Jahr durch die USA. Einen Monat hielt er sich in der 150 Menschen starken Lebensgemeinschaft „Movement for a new Society“ auf, die in Philadelphia/Pennsylvania mehrere Häuser unterhielt. „Fasziniert hat mich dort die zentrale Idee von Mahatma Gandhi und Martin Luther King, mit gewaltfreien Mitteln einen gesellschaftlichen Dialog zu erzwingen und die Gesellschaft politisch zu beeinflussen“, erzählt er. „Das war mein politisches Erweckungserlebnis.“ Doch er war damals schon politisch nicht unerfahren: An der Universität Freiburg war er im AStA sowie im Arbeitskreis Kritischer Juristen und der „Bürgerinitiative gegen Berufsverbote“ aktiv.
Das Cover der Zeitschrift „Movement for a new Society“ benennt die Schlüsselthemen der anti-autoritären Aktivistenbewegung. Ihre Strategie „Oppose and Propose“, auf die sich soziale Bewegungen bis heute stützen, arbeitete Andrew Cornell in dem gleichnamigen Buch sozialhistorisch auf.Sein Wille zur gesellschaftlichen Mitgestaltung zeigte sich auch in seiner Amtszeit als ULD-Leiter. Im Laufe der 17 Jahre am ULD produzierte Weichert eine wahre Flut an Ausarbeitungen zu verschiedensten hochaktuellen Themen. Prominente Beispiele sind etwa seine Stellungnahmen und Gutachten zur datenschutzkonformen Gestaltung von Scoring, Chipkarten und Big Data oder den Umgang mit Geodaten. Dabei arbeitete er praktisch aus der Perspektive einer datenschutzrechtlichen Folgeabschätzung: Er analysierte die technischen Konzepte, skizzierte Risiken und diskutierte juristische wie technische Maßnahmen.
Rückblickend sagt er: „Ich habe eine Art Feuerwehrfunktion eingenommen. Ich habe mich immer dort engagiert, wo es brennt, aber wenig unternommen wird, um den Brand zu löschen.“ Auch griff er oft instinktsicher neue technische Entwicklungen vor den Medien auf – und wusste diese auf verschiedene Wege in die politische Diskussion einzubringen: „Mir ist es wichtig zu einem Zeitpunkt zu agieren, zu dem ein Thema in der Luft liegt, aber noch nicht virulent ist.“
Weichert scheute sich dabei auch nicht gegen den datenschutzpolitischen Mainstream von AK Vorrat und netzpolitik.org zu stellen. So entwickelte er während der Diskussion über das IT-Sicherheitsgesetz in Austausch mit Ute Bernhardt und Ingo Ruhmann seine differenzierte Position zum Umgang mit Internetprotokolldaten, wie sie auf jedem Server anfallen. So sollten diese durchaus zur Aufklärung von IT-Sicherheitsvorfällen genutzt werden dürfen. Ein Urteil des Europäische Gerichtshof argumentierte erst kürzlich ähnlich – wobei sich zeigen wird, ob auch Weicherts damals entwickelter Lösungsvorschlag Teil einer gesetzlichen Risikoabwägung werden wird. Die hierfür entwickelte Argumentation griff er auch anlässlich der Wiedereinführung der staatlichen Vorratsdatenspeicherung auf, stieß damit jedoch auf deutliche Kritik.
Die mediale Superpräsenz hatte auch ihre Schattenseite: Sie suggerierte, das ULD sei eine starke, ausreichend ausgestattete Aufsichtsbehörde. „Weicherts Bürde war seine omnipotente Präsenz in der Öffentlichkeit, die als Beleg für Kraft und Stärke des ULD die Idee einer nachhaltigen Stärkung der Behörde geradezu konterkarierte“, stellte Johannes Caspar scharfsinnig fest. Tatsächlich gab auch Weichert am Ende selbstkritisch zu, dass er „doch zu viel Verständnis für die katastrophale Haushaltslage des Landes aufgebracht“ habe.
Unbestritten gehört das ULD, wie Caspar sagte, zu „einer der aktivsten und produktivsten Datenschutzbehörden europaweit“. Doch mangels Personal und Ressourcen hatte das ULD auch eine deutliche Schlagseite: Die Kontrolle des öffentlichen Bereichs und zunehmend auch im nicht-öffentlichen Bereich erfolgt nur auf Sparflamme, eine ausgewogene Besetzung wird noch immer von der Politik boykottiert. Nur ein kleines Beispiel: Nach seinem Weggang musste mangels Personalressourcen ein Kontrollverfahren gegen eine Apotheke in Schleswig-Holstein eingestellt werden, bei dem die Datenverarbeitung der VSA als Auftragsdatenverarbeiterin aufs Korn genommen wurde.
Der Ausputzer
Weichert fühlte sich vor allem dann berufen etwas zu sagen, wenn es galt, ungeklärte Fragen zu thematisieren: „Wenn von den anderen Datenschutzaufsichtsbehörden nichts kam, habe ich den Ausputzer gespielt.“ Vor Eskalationen schreckte er nicht zurück, um umstrittene aufsichtsrechtliche Fragen zu klären. So führte etwa das unscharfe Verständnis zureichender Pseudonymisierungsverfahren zu einer gerichtlichen Konfrontation mit der VSA sowie zu einer rechtspolitischen Auseinandersetzung mit Thomas Kranig, dem Leiter der Bayerischen Datenschutzaufsicht zunächst hinter verschlossenen Türen.
Die politische Diskussion über die Ausgestaltung des „Privacy Shield“ verfolgte Weichert in diesem Jahr mit wachsendem Unbehagen. Seiner Ansicht hielten die Aufsichtsbehörden gegenüber der Politik viel zu lang still und brachten selbst nicht aktiv Gestaltungsvorschläge in den Diskurs ein. Das brachte ihn dazu, um „Netzwerk Datenschutzexpertise“ die Alternative eines „Export-Import-Vertrags“ zu entwickeln.
Mit Sorge sieht Thilo Weichert, dass bisher niemand im Kreis der 18 Datenschutzaufsichtsbehörden seine Rolle des Ausputzers übernommen hat. Aus Sicht von klassischen Datenschützern wie Spiros Simitis ist diese diskursprägende Rolle der Datenschutzbeauftragten jedoch enorm wichtig, da die praktische Umsetzung des Datenschutzrechts angesichts der raschen technischen Entwicklung kontinuierlich kritisch reflektiert werden muss, um zeitgemäße regulatorische Korrekturen anstoßen zu können.
Autorin:
Christiane Schulzki-Haddouti
Kontakt:
Rechtsanwalt Dr. Sebastian Kraska, externer Datenschutzbeauftragter
Telefon: 089-1891 7360
E-Mail-Kontaktformular
E-Mail: email@iitr.de
Information bei neuen Entwicklungen im Datenschutz
Tragen Sie sich einfach in unseren Newsletter ein und wir informieren Sie über aktuelle Entwicklungen im Datenschutzrecht.