Mit einem den Beteiligten am 25.01.2013 bekannt gegebenen Beschluss vom 23.01.2013 (1 L 3310/12.GI) hat das Verwaltungsgerichts Gießen die sofortige Vollziehung einer vorläufigen Betriebsuntersagung gegen die Firma wool.rec durch das Regierungspräsidium Gießen aufgehoben. Bis zu einer Entscheidung im Hauptsacheverfahren entfaltet die vorläufige Betriebsuntersagung daher keine Wirkung.
Hintergrund
Gegenstand des Eilverfahrens war ein Bescheid des Regierungspräsidiums Gießen vom 26.09.2012, mit dem unter Anordnung der sofortigen Vollziehung der im hessischen Tiefenbach ansässige Betrieb der Anlage zur Lagerung und Behandlung von Glas- und Mineralwollabfällen, die künstliche Mineralfasern (KMF) enthalten, gemäß § 17 BImSchG bis auf weiteres untersagt worden war.
Nach § 17 Abs. 1 BImSchG können zur Erfüllung der sich aus diesem Gesetz und der auf Grund dieses Gesetzes erlassenen Rechtsverordnungen ergebenden Pflichten nach Erteilung der Genehmigung sowie nach einer nach § 15 Abs. 1 BImSchG angezeigten Änderung Anordnungen getroffen werden. Wird nach Erteilung der Genehmigung sowie nach einer nach § 15 Abs. 1 angezeigten Änderung festgestellt, dass die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft nicht ausreichend vor schädlichen Umwelteinwirkungen oder sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen geschützt ist, soll die zuständige Behörde nachträgliche Anordnungen treffen. Die zuständige Behörde darf allerdings nach § 17 Abs. 2 BImSchG eine nachträgliche Anordnung nicht treffen, wenn sie unverhältnismäßig ist, vor allem wenn der mit der Erfüllung der Anordnung verbundene Aufwand außer Verhältnis zu dem mit der Anordnung angestrebten Erfolg steht; dabei sind insbesondere Art, Menge und Gefährlichkeit der von der Anlage ausgehenden Emissionen und der von ihr verursachten Immissionen sowie die Nutzungsdauer und technische Besonderheiten der Anlage zu berücksichtigen.
Anlass des Bescheides war ein Schadensfall im September 2012 an der Produktionshalle, in dessen Folge die Firma wool.rec zunächst freiwillig den Betrieb eingestellt und den Schaden behoben hatte. Ein Gutachten von Anfang September 2012 war nach Untersuchung des hergestellten Woolit und anderer Materialproben zu dem Ergebnis gekommen, dass das untersuchte Probenmaterial als signifikant schadstoffbelastet einzustufen und nicht auszuschließen sei, dass bereits erhebliche schädliche Umwelteinwirkungen hinsichtlich einer Belastung der Böden und eventuell des Grundwassers eingetreten seien. Das Gutachten empfahl zur Klärung weitere Untersuchungen von Boden- und Grundwasserproben. Das Regierungspräsidium Gießen stützte die vorläufige Betriebsuntersagung auf die erforderlichen weiteren Gefahrerforschungsmaßnahmen und die Notwendigkeit zur Vermeidung weiterer potentieller Gefährdungen. In der Folgezeit gab zunächst das Hessische Landeslabor eine Stellungnahme ab, wonach Proben von in der Umgebung angebautem Obst und Gemüse und Gras keine erhöhten Dioxin- und PCB-Werte aufwiesen. Das Hessische Landesamt für Umwelt und Geologie kam in einem Gutachten Anfang November 2012 zu dem Ergebnis, dass die Analysen der Bodenproben keine Schadstoffbelastung aufzeigten, die einen dringenden Handlungsbedarf nach sich ziehen würden. Da das Regierungspräsidium an der vorläufigen Betriebsuntersagung festhielt, wandte sich die Firma wool.rec Ende November 2012 um vorläufigen Rechtsschutz an das Verwaltungsgericht Gießen.
Entscheidung
Die für Immissionsschutzrecht zuständige 1. Kammer des Verwaltungsgerichts Gießen setzte nun den Vollzug der vorläufigen Betriebsuntersagung aus. Ausschlaggebend war dabei nach Ansicht des Gerichts, dass die Voraussetzungen des § 17 BImSchG, auf den das Regierungspräsidium Gießen seine Maßnahme stützt, nicht mehr vorlägen und die vorläufige Betriebsuntersagung mittlerweile unverhältnismäßig ist. § 17 BImSchG erlaube zwar nachträgliche Anordnungen für einen Betrieb, wenn nach der Erteilung der Genehmigung festgestellt wird, dass die Allgemeinheit oder die Nachbarschaft nicht ausreichend vor schädlichen Umwelteinwirkungen oder sonstigen Gefahren, erheblichen Nachteilen oder erheblichen Belästigungen geschützt ist. In Betracht kämen danach aber nur vorübergehende kurzfristige Stilllegungen und auch nur dann, wenn einerseits akute Risiken für die Gesundheit oder bedeutende Sachwerte bestünden, andererseits offen sei, ob die hinreichende Wahrscheinlichkeit für dauerhafte Maßnahmen gegeben sei. § 17 BImSchG erlaube aber nicht Anforderungen zu stellen, die den Weiterbetrieb der Anlage auf Dauer objektiv unmöglich machten. Dies bleibe einer Untersagung nach § 20 BImSchG vorbehalten. Bei der angefochtenen Maßnahme handele es sich jedenfalls zum maßgeblichen Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung nicht mehr nur um eine nachträgliche Anordnung mit dem Ziel der kurzfristigen Abschaltung der Anlage, da sie inzwischen fast vier Monate dauere.
Darüber hinaus sei die vorläufige Betriebsuntersagung auch nicht mehr verhältnismäßig, was § 17 Abs. 2 BImSchG ausdrücklich verlange. Spätestens nach dem Vorliegen des Abschlussberichts des Hessischen Landeslabors vom 1. November 2012, wonach alle Belastungen der gezogenen Proben unterhalb der Aktionswerte liegen und des Gutachtens des Hessischen Landesamtes für Umwelt und Geologie vom 6. November 2012, das zu dem Ergebnis kommt, dass die Analysen der Bodenproben keine Stoffbelastungen aufzeigten, die einen dringenden Handlungsbedarf nach sich ziehen würden und daher nur weitere Detailuntersuchungen anregt, sei eine komplette Betriebsuntersagung unverhältnismäßig gewesen. Der ursprüngliche Gefahrenverdacht sei ab diesem Zeitpunkt nicht mehr in dem Umfange vorhanden gewesen, der eine komplette Betriebsuntersagung noch verhältnismäßig erscheinen lassen würde. Vielmehr wären mildere Mittel, z. B. zusätzliche Anordnungen bezüglich der Anlieferung der zu verarbeitenden Abfälle, von der Behörde zu prüfen gewesen. Es sei auch nicht erkennbar, dass von Seiten der Behörde die weitere gutachterliche Aufklärung mit dem Ziel einer Überprüfung der Aufrechterhaltung der vorläufigen Betriebsuntersagung forciert worden wäre.
Die Entscheidung ist noch nicht rechtskräftig. Die Beteiligten (einschließlich der beigeladenen Nachbarn) können dagegen binnen 2 Wochen Beschwerde beim Hessischen Verwaltungsgerichtshof in Kassel einlegen.
Quelle: Pressemitteilung des VG Gießen vom 25.01.2013
Rechtsanwalt Dr. Alfred Stapelfeldt ist Fachanwalt für Verwaltungsrecht, Lehrbeauftragter für Umweltrecht an der Fachhochschule Mainz und Partner der Rechtsanwaltskanzlei Rechtsanwälte SZK (www.rechtsanwaelteszk.de) mit Büros in Wiesbaden und Darmstadt.