Urteil des OLG Hamm vom 19.08.2010
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Oberlandesgericht Hamm, III-3 RVs 69/10
Datum:
19.08.2010
Gericht:
Oberlandesgericht Hamm
Spruchkörper:
3. Strafsenat
Entscheidungsart:
Beschluss
Aktenzeichen:
III-3 RVs 69/10
Vorinstanz:
Amtsgericht Minden, 12 Ls 66 Js 566/09 - 102/09
Schlagworte:
Fehlen der Urteilsunterschrift
Normen:
StPO § 338 Nr. 7, § 275 Abs. 2
Leitsätze:
Ist die Unterzeichnung des nach Urteilsdiktat abgefassten schriftlichen
Urteilsentwurfs durch den an der Entscheidungsfindung allein beteiligten
Berufsrichter dauerhaft unmöglich, so ist dieser Umstand dem
Nichtvorhandensein der schriftlichen Urteilsgründe gleichzusetzen und
im Rahmen der revisionsrechtlichen Überprüfung auf die Sachrüge zu
berücksichtigen.
Tenor:
Das angefochtene Urteil wird aufgehoben.
Die Sache wird zur erneuten Verhandlung und Entscheidung - auch
über die Kosten der Revision und die der Nebenklägerin im
Revisionsverfahren entstandenen notwendigen Auslagen - an eine
andere als Jugendschöffengericht zuständige Abteilung des
Amtsgerichts Minden zurückverwiesen.
G r ü n d e :
1
I.
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Nach durchgeführter Hauptverhandlung verhängte das Amtsgericht
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- Jugendschöffengericht - Minden am 09.04.2010 wegen sexuellen Missbrauchs von
Kindern eine Gesamtfreiheitsstrafe von 2 Jahren und 6 Monaten gegen den
Angeklagten.
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Die Urteilsgründe diktierte die zuständige Amtsrichterin auf Tonträger und verfügte am
19.04.2010 die Erstellung der Urteilsniederschrift nach Maßgabe des Diktats.
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Vor Erhalt der am 12.05.2010 zu den Akten gelangten Niederschrift verstarb die
Amtsrichterin.
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Die Urteilsniederschrift wurde mit folgendem Vermerk versehen:
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" Eine Unterschrift der zuständigen Richterin am Amtsgericht M war nicht mehr möglich.
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Daher folgt die Unterschrift in Vertretung durch den Richter am Amtsgericht I."
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Eine Unterschrift trägt die Niederschrift – dementgegen - nicht.
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An den Verteidiger des Angeklagten wurden in der Folgezeit eine Abschrift des
Hauptverhandlungsprotokolls sowie der Urteilstenor ohne Gründe zugestellt.
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Gegen das Urteil wendet sich der Angeklagte mit der Revision und rügt die Verletzung
formellen sowie materiellen Rechts.
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II.
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Die zulässige Sprungrevision hat einen zumindest vorläufigen Erfolg.
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Das angefochtene Urteil war aufzuheben und die Sache an eine andere als
Jugendschöffengericht tätige Abteilung des Amtsgericht Minden zurückzuverweisen (§§
349 Abs. 4, 354 Abs. 2 StPO).
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Die fehlende Unterzeichnung des schriftlichen Urteilsentwurfs und das damit hier
gänzliche Fehlen der Urteilsgründe haben einen durchgreifenden Rechtsfehler zur
Folge.
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1.
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Der Senat konnte unentschieden lassen, ob eine Aufhebung des Urteils auch auf die
Verfahrensrüge hin in Betracht gekommen wäre.
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Zwar genügt die im Einzelnen näher ausgeführte und zulässig erhobene formelle Rüge
der fehlenden bzw. verspäteten Urteilsbegründung nach § 338 Nr. 7 StPO den
Begründungsanforderungen des § 344 Abs. 2 S. 2 StPO.
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Die Revision teilt als maßgebliche Verfahrenstatsachen auch das Fehlen der
Unterschrift der erkennenden Berufsrichterin sowohl unter der im Protokoll
niedergelegten Urteilsformel als auch unter den in den Akten befindlichen schriftlichen
Urteilsgründen mit, was deswegen erheblich ist, weil die Unterzeichnung des Urteils
durch die mitwirkenden Berufsrichter ausschließlich in einer Norm des Verfahrensrechts
(§ 275 Abs. 2 StPO) vorgesehen ist, und deswegen derartige Rechtsfehler grundsätzlich
mit der Verfahrensbeschwerde geltend zu machen sind (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2000
- 4 StR 354/00).
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2.
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Auch auf die Sachrüge indes darf ein solcher Mangel jedenfalls dann beachtet werden,
wenn die Urteilsgründe völlig fehlen (BGH, wie vor; BGH, Beschl. v. 26.06.1992 - 3 StR
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170/92 = BGHR StPO § 338 Nr. 7 Entscheidungsgründe 2; OLG Hamm, NStZ-RR 2009,
S. 24; OLG Celle, NJW 1959, S. 1647; Meyer-Goßner, StPO, 53. Aufl. § 338 Rdn. 52;
Hanack in Löwe/Rosenberg, StPO, § 338 Rdn. 115), oder – was dem
Nichtvorhandensein einer schriftlichen Urteilsbegründung gleichzusetzen ist - wenn das
Urteil überhaupt keine Unterschriften trägt (vgl. BGH, Beschl. v. 21.11.2000 - 4 StR
354/00; OLG Frankfurt, NStZ-RR 2010, S. 250 m. zahlr. w. N.).
So verhält es sich hier.
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Das Fehlen der Unterschrift der im Spruchkörper allein befassten Berufsrichterin unter
den nach Urteilsdiktat abgefassten schriftlichen Urteilsgründen begründet eine auf die
materielle Rüge zu beachtende Rechtsfehlerhaftigkeit, denn in Ermangelung der
Unterschrift der erkennenden und allein entscheidenden Berufsrichterin ist der Inhalt der
schriftlich fixierten Urteilsgründe nicht gedeckt, so dass dem Revisions-gericht die
Überprüfung, ob das Amtsgericht das sachliche Recht zutreffend angewandt hat, nicht
möglich ist (so schon: OLG Celle, NJW 1959, S. 16478).
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Mit den gem. §§ 267, 275 Abs. 1 StPO zu den Akten zu bringenden schriftlichen
Urteilsgründen bezeugen die beteiligten Berufsrichter durch die Unterschrift, dass es
sich bei den schriftlich niedergelegten Gründen um die Gründe des Gerichts handelt, die
in der Beratung gewonnen worden sind (vgl. Meyer-Goßner, a.a.O., § 267 Rdn. 1 u. §
275 Rdn. 3; Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, § 275 Rdn. 4).
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Der schriftliche Entwurf des Berichterstatters eines Kollegialgerichts genügt dabei
ebenso wenig wie das Diktat - eines alleinig beteiligten Berufsrichters - auf Tonträger
(OLG Hamm, VRS 50, S. 121; Meyer-Goßner, a.a.O., § 275 Rdn. 3), so dass vor
Anbringung der letzten erforderlichen Unterschrift nur ein Urteilsentwurf vorliegt
(Gollwitzer in Löwe/Rosenberg, § 275 Rdn. 4; vgl. auch BGH, NJW 1976, S. 431).
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Sind alle oder der einzige Berufsrichter endgültig an der Unterschriftsleistung gehindert,
so ist die vollständige Abfassung des Urteils unmöglich (Engelhardt in Karlsruher
Kommentar, StPO, 6. Aufl. 2008, § 275 Rdn. 37).
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Dies wird im vorliegenden Fall auch nicht durch den mit den schriftlichen
Urteils(entwurfs-)gründen versehenen Verhinderungsvermerk in Frage gestellt.
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Unabhängig davon, dass - wie die Revision zu Recht vorträgt - entgegen dem Inhalt des
niedergelegten Verhinderungsvermerks der Urteilsentwurf gerade nicht in Vertretung
unterzeichnet worden ist, wäre eine solche – unzulässige -Unterzeichnung
bedeutungslos.
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Nach der zwingenden Regelung in § 275 Abs. 2 S. 1 StPO ist das Urteil von den
Richtern, die bei der Entscheidung mitgewirkt haben, zu unterschreiben.
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Die Zuständigkeit für die Anfertigung von Verhinderungsvermerken ergibt sich aus
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§ 275 Abs. 2 S. 2 StPO. Danach ist der Verhinderungsfall unter Angabe des
Verhinderungsgrundes von dem Vorsitzenden und bei dessen Verhinderung von dem
ältesten beisitzenden Richter unter dem Urteil zu vermerken.
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Aus diesen gesetzlichen Bestimmungen folgt unmissverständlich, dass
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vertretungsweise vorgenommene Diensthandlungen im Hinblick auf die Unterzeichnung
des Urteils allenfalls von berufsrichterlichen Mitgliedern des erkennenden
Kollegialgerichts, nicht jedoch von allgemein nach der Geschäftsverteilung zuständigen
Vertretern vorgenommen werden können.
Nur erkennende (Berufs-)Richter sind berechtigt und in der Lage, durch die
Unterzeichnung der Urteilsgründe das Ergebnis der Hauptverhandlung und die
Beratung des Spruchkörpers zu bezeugen sowie die Identität der Tat und des Täters,
über welche das Urteil befunden hat (BayObLG, NJW 1967, S. 1578).
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Hiernach mussten das angefochtene Urteil der Aufhebung und die Sache der
Zurückverweisung zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung obliegen.
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III.
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Der verweisende Kostenausspruch konnte sich trotz des bislang fehlenden Beschlusses
nach § 396 Abs. 2 StPO auch auf die notwendigen Auslagen der Nebenklägerin
erstrecken, da Voraussetzung hierfür allein die mit Schriftsatz vom 06.05.2010 erfolgte
wirksame Anschlusserklärung gem. §§ 395 Abs. 1 Nr. 1, 396 Abs. 1 StPO ist (vgl. LG
Koblenz, Beschl. v. 24.06.2009 - 3 Qs 36/09; Meyer-Goßner, a.a.O., § 472 Rdn. 1).
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